Erklärende Bemerkungen zu “GIB MIR DEINE HAND 2024”

Im Rah­men des Wahlkampfes zum Säch­sis­chen Land­tag habe ich eine neue Ver­sion des Astro-Rit­ter-Kollek­tiv-Songs „Gib mir deine Hand“ aufgenom­men, der zu sein­er Zeit einen kleinen regionalen Tik­tok-Hype hat­te. Das Orig­i­nal-Video find­et sich hier, hier ist die Ver­sion für den Wahlkreis 23. Für alle die es inter­essiert, möchte ich zu eini­gen Zeilen aus dem Lied ein paar inhaltliche Bemerkun­gen anfü­gen um die poli­tis­chen Hin­ter­gründe näher zu beleucht­en. Wer nicht so gerne liest son­dern sich Dinge lieber erzählen lässt: Auf Grund­lage dieses Textes gibt es auch eine Pod­cast­folge (Num­mer 3, gibt es auch bei Spo­ti­fy, Apple Pod­casts etc.), in der die fol­gen­den Zeilen noch etwas näher aus­ge­führt wer­den.

 

„Ein Fürst regiert seit 20–1“ bezieht sich auf den Grim­maer Ober­bürg­er­meis­ter Matthias Berg­er, der als Spitzenkan­di­dat für die „Freien Wäh­ler“ zur Säch­sis­chen Land­tagswahl antritt und mit bish­er mäßigem Erfolg ver­sucht, der säch­sis­che Hubert Aiwanger zu sein. Die Beze­ich­nung habe ich mir dabei nicht selb­st aus­gedacht, son­dern ist eine sehr präzise Beschrei­bung von der Grim­maer Land­tagsab­ge­ord­neten Ker­stin Köditz aus einem Kreuzer-Artikel über die Kom­mu­nal­wahlen im Früh­jahr 2024. Durch mein Engage­ment an der Alten Spitzen­fab­rik habe ich diese Gut­sher­re­nart allzu gut mit­bekom­men kön­nen, bemerkenswert fand ich aber den­noch den Ausspruch Berg­ers bei einem Bauern­protest in Plauen zu Beginn des Jahres, dass „er seine Bauern kenne“. Das Gemein­dege­bi­et von Grim­ma ist ins­beson­dere nach der Kreis­ge­bi­et­sre­form durch zahlre­iche Einge­mein­dun­gen immens groß gewor­den (64 Ort­steile sam­meln sich nun­mehr in der flächen­mäßig viert­größten Stadt Sach­sens), worauf ich im Text Bezug nehme; dass sich die B‑Besoldung für den OBM hier­bei nach der Einwohner*innenanzahl richtet, ist sicher­lich ein schön­er Neben­ef­fekt für den Mann gewe­sen, der expliz­it nichts von Brand­mauern gegen die AfD wis­sen möchte und sich somit als Königs­mach­er ein­er selb­st laut dem säch­sis­chen Lan­desamt für Ver­fas­sungss­chutz gesichert recht­sex­tremen Vere­ini­gung andi­enen möchte. Sein man­gel­ndes Demokratiev­er­ständ­nis hat er mehr als ein­mal bewiesen, z. B. als er 2019 als amtieren­der OBM als Spitzenkan­di­dat der Freien Wäh­ler antrat, in dem Wis­sen, das Man­dat nicht antreten zu kön­nen ohne seinen Posten abzugeben und um mit ein­er ihm höri­gen Mehrheit „durchregieren“ zu kön­nen. In jedem Fall ist er mit Sicher­heit die geeignet­ste Per­son, um das Ban­ner der „Ide­olo­giefrei­heit“ vor sich herzu­tra­gen.

Wer im säch­sis­chen ländlichen Raum aufgewach­sen ist und keinen Führerschein oder Auto hat, was ins­beson­dere ziem­lich junge Per­so­n­en, ziem­lich alte Per­so­n­en und arme Men­schen bet­rifft, weiß: Wenn auf den Dör­fern mal ein Bus kommt, dann an Schul­t­a­gen am Mor­gen und am Nach­mit­tag. In den Ferien und an den Woch­enen­den sieht es dünn aus – darauf nehme ich im Lied Bezug. Laut dem Abschluss­bericht der ÖPNV-Strate­giekom­mis­sion für den Freis­taat Sach­sen hat die Hälfte der Ein­wohner­in­nen und Ein­wohn­er keinen wohnort­na­hen Zugang zu Bus oder Bahn. Das wollen wir ändern – mit geset­zlichen Vor­gaben anstelle leer­er Ver­sprechen. Der öffentliche Per­so­nen­nahverkehr muss sein­er sozialen Funk­tion gerecht und keine frei­willige, son­dern Pflich­tauf­gabe der Kom­munen sein. Einen Vorschlag für eine umfassende Mobil­itätswende für Sach­sen gibt es hier.

Das kür­zlich geschlossene „Bäck­er-Eck“ der Bäck­erei Vet­ter in Großstein­berg habe ich lediglich sym­bol­isch her­aus­ge­grif­f­en, es ste­ht jedoch für etwas Größeres: In den let­zten Jahren haben immer mehr Dor­flä­den, Bäck­ereien in kleinen Gemein­den etc. geschlossen, oft weil es sich schlicht „nicht rech­net“. Nicht ein­mal die Hälfte der Gemein­den mit weniger als 2.000 Einwohner*innen haben noch ein Lebens­mit­telgeschäft mit Voll­sor­ti­ment. Die Zahl der Dor­flä­den sank von 2010 bis 2017 um rund 47 %. Hier ver­sagt der Markt ein­deutig bei der Nahver­sorgung. Dor­flä­den sind mehr als Einkauf­s­möglichkeit­en: Sie kön­nen Begeg­nungsstät­ten mit vielfälti­gen geteil­ten Nutzungsmäglichkeit­en sein: Vor-Ort-Sprech­stun­den von Behör­den, Café-Ange­bote, Gesund­heits- und Pflege­di­en­ste, Frisör, Post‑, Paket‑, Kopi­er- & Inter­net­di­en­ste, Bank­di­en­ste, Bargeld­ser­vice, Kinder­be­treu­ung, Jugend‑, Senioren­tr­e­ff, kul­turelle Ver­anstal­tun­gen, Bil­dung, Kurse aller Art. Die säch­sis­che Links­frak­tion hat hier­für ein Pro­gramm „Dor­flä­den in Sach­sen“ gefordert, was die entsprechende Unter­stützung sich­er­stellen soll.

Das „wie warme Sem­meln nur noch junge Leute weg“gehen, ist ein freilich über­spitzer Hin­weis auf die Land­flucht-Prob­lematik und hat eben­falls natür­lich nichts mit Großstein­berg an sich zu tun, son­dern ver­weist auf das grassierende Prob­lem des Abgangs junger Men­schen aus dem ländlichen Raum in Sach­sen, wobei dieser ehrlicher­weise in „Speck­gürtel­ge­bi­eten“ noch weniger zu Tage tritt als etwa im Erzbe­girge oder in der Lausitz. Das Ganze bringt zwei Imp­lika­tio­nen mit sich: Erstens müssen die infra­struk­turellen Bedin­gun­gen für eine stetig älter wer­dende Bevölkerun­gen geschaf­fen wer­den, zweit­ens müssen jun­gen Men­schen Per­spek­tiv­en aufgezeigt wer­den, um in großer Zahl vor Ort bleiben zu kön­nen, wenn sie es denn möcht­en. Das bedeutet neben guten und wohnort­na­hen Aus­bil­dung­sorten auch mehr Freiräume und Unter­stützung für kul­turelle Pro­jek­te, die Stärkung von Jugend­hil­fe und Jugen­dar­beit, sowie der Kampf gegen die Ver­drän­gung junger Leute aus dem öffentlichen Raum. Hin­ter­gründe zur säch­sis­chen Bevölkerungsen­twick­lung gibt es hier und hier.

Dass „den Kom­munen das Geld fehlt“ habe ich mir eben­falls nicht aus­gedacht, vielmehr war­nen die Präsi­den­ten der kom­mu­nalen Spitzen­ver­bände seit Jahren ein­dringlich vor einem struk­turellen Defiz­it der Kom­mu­nal­fi­nanzen, das nur durch einen höheren Anteil an den Gemein­schaftss­teuern, der langfristige Pla­nung ermöglicht, zu erre­ichen sei. (Hin­ter­gründe hier). Auf­gaben der Kom­munen unter­schei­den sich, ganz grob gesprochen, in Pflich­tauf­gaben (Träger­schaft für öffentliche Schulen, Auf­stel­lung, Aus­rüs­tung und Unter­hal­tung ein­er Feuer­wehr, Wasserver­sorgung und Abwasserbe­sei­t­i­gung etc.) und frei­willige Auf­gaben (Jugend­häuser, Sozial­sta­tio­nen, Altenheime, Erhol­ung­sein­rich­tun­gen, Grün- und Parkan­la­gen, Wan­der­wege, Lehrp­fade, Sport­förderung (z.B. Bau und Unter­halt von Sport- und Schwimmhallen, Förderung der Sportvere­ine, Ange­bote für den Bre­it­en- und Freizeit­sport). Die „Pflicht“ kommt dabei selb­stre­dend zuerst, sodass bei der beschriebe­nen anges­pan­nten Haushalt­sla­gen zunächst bei den frei­willi­gen Auf­gaben gekürzt wird. Nun will ich nicht über die Zukun­ft des Wald­bades mut­maßen, aber a) wur­den auf­grund des Kos­ten­drucks in diesem Jahr erneut die Preise erhöht und der kosten­lose Ein­tritt für ehre­namtlich Tätige abgeschafft und b) gehörten an ander­er Stelle in Sach­sen die Schließung von Freibädern und Schwimmhallen zur Real­ität. Das ist gle­ich aus mehreren Grün­den fatal. Ein­er davon ist, dass das Ertrinken deutsch­landweit inzwis­chen zu den häu­fig­sten Unfall­todesur­sachen bei Kindern gehört. Für uns gilt daher: Jedes Kind soll schwim­men ler­nen! Wir set­zen uns dafür ein, dass Schwimmhallen und Freibäder aus­re­ichend finanziert wer­den und alle Kinder kosten­losen Ein­tritt erhal­ten. Außer­dem wollen wir ein Förder­pro­gramm für Schwimm­bäder auf den Weg brin­gen, nicht zulet­zt, um auf die gestiege­nen Betrieb­skosten zu reagieren und den Man­gel an Freibad­per­son­al zu been­den. In jed­er Leg­is­laturpe­ri­ode soll min­destens eine Schwimmhalle neu gebaut und eine saniert wer­den.

„Tatü­ta­ta in Bel­ger­shain – Aus­rüs­tung und Renten­punk­te, das muss doch wohl drinne sein?“ Die Unter­stützung des Ehre­namtes, ins­beson­dere der im Bevölkerungss­chutz täti­gen, kann über­haupt nicht genug gewürdigt wer­den. Passend zum obi­gen Absatz ist die Auf­stel­lung, Aus­rüs­tung und Unter­hal­tung ein­er Feuer­wehr eine kom­mu­nale Pflich­tauf­gabe, aber viele Kom­munen kön­nen aus ihrer finanziellen Not nur das Allernötig­ste für die Kamerad*innen machen. Wir sagen: Brand­schutz soll eine weisungs­ge­bun­dene Pflich­tauf­gabe wer­den, damit sie nicht mehr vom Geld­beu­tel der Kom­mune abhängig ist. Der Freis­taat muss so eine sach­sen­weit gle­iche Grun­dausstat­tung der Feuer­wehren garantieren und für die Finanzierung aufkom­men. Ein Ein­satz im Bevölkerungss­chutz bedeutet nicht nur, jed­erzeit abruf­bar zu sein, son­dern auch, im Not­fall sein Leben zu riskieren. Dieses beson­dere Engage­ment im Bevölkerungss­chutz muss angemessen anerkan­nt wer­den. Das Min­deste ist es, dass endlich Bil­dung­surlaub für nötige Weit­er­bil­dun­gen gewährt und gefördert wird und die Aus­bil­dungs­be­din­gun­gen geschaf­fen wer­den, dies kann dezen­tral oder in der Feuer­wehr- und Katas­tro­phen­schutzschule in Nardt erfol­gen. Wir fordern außer­dem Renten­punk­te als Anerken­nung für diesen außergewöhn­lichen Dienst an der Gesellschaft. Das muss wahrlich drinne sein! Der Drehort der Frei­willi­gen Feuer­wehr Bel­ger­shain war im Übri­gen zufäl­lig gewählt, die Kam­eradin­nen und Kam­er­aden haben in kein­er Weise ihre Neu­tral­ität­spflicht ver­let­zt, auch wur­den uns keines­falls extra die Tore geöffnet.

Um „die Kinder mal im Dorfe lassen“ und so kurze Wege für kurze Beine bere­itzustellen, wollen wir eine „Schule für alle“, an der alle Kinder gemein­sam ler­nen kön­nen, unab­hängig von ihrer sozialen Herkun­ft, Migra­tions­geschichte oder eines son­der­päd­a­gogis­chen Förderbe­darfs. Wir set­zen uns dafür ein, dass die Gemein­schaftss­chule zum Stan­dard im säch­sis­chen Bil­dungssys­tem wird. Dafür muss diese Schul­form mit Unter­stützung der zukün­fti­gen Ver­wal­tung sowie regionaler Beratungsstellen weit­er aus­ge­baut wer­den. So lassen sich Vorurteile abbauen und Sol­i­dar­ität kann erlernt wer­den. Gemein­sames Ler­nen wirkt nach­weis­lich pos­i­tiv auf den Lern­er­folg, wenn es richtig konzip­iert und fach­lich unter­stützt wird. Gemein­schaftss­chulen kön­nen helfen, den Lehrkräfte­man­gel zu lin­dern, Unter­richt­saus­fall zu ver­mei­den und Schu­la­b­brüche zu ver­hin­dern. An ihnen wird jahrgangsüber­greifend, selb­st­bes­timmt und pro­jek­t­be­zo­gen gel­ernt. Zudem fördern Gemein­schaftss­chulen auch die soziale Gerechtigkeit und den gesellschaftlichen Zusam­men­halt. Dort kann jedes Kind bis zulet­zt jeden Abschluss erre­ichen, ohne vor­eilig aus­sortiert zu wer­den.

Über die Notwendigkeit eine kosten­losen, regionalen, gesun­den und frischen Mit­tagessens für alles Kinder habe ich bere­its in Folge 2 meines Wahlkampf­pod­casts gesprochen und es ist eine der Kern­forderun­gen der Land­tagswahlkam­pagne: Auf leeren Magen lernt es sich schlechter und für viele Kinder ist das Mit­tagessen in der Kita oder der Schule die einzige warme und gesunde Mahlzeit am Tag, so sie es denn bekom­men. In Sach­sen kostet ein Mit­tagessen an Schulen schließlich bis zu 7 Euro und in Kitas gibt es Sper­rlis­ten für Kinder, deren Eltern kein Essens­geld bezahlt haben – diese müssen dann vor dem Essen abge­holt wer­den. Das ist ein absolutes Und­ing!

Auch das The­ma der stetig steigen­den Mieten haben wir in Folge 2 des Pod­casts bere­its besprochen, mit diesen Zeilen wollte ich darauf hin­weisen, dass es eben nicht nur ein „Großs­tadt­prob­lem“ ist, son­dern auch in Städten und Gemein­den wie Großpös­na und Naun­hof zunehmend schw­er­er wird, bezahlbaren Wohn­raum zu find­en. Auch in Großpös­na gibt es Men­schen, die zur Miete wohnen und auch wenn die ver­füg­baren Dat­en keinen wis­senschaftlichen Kri­te­rien genü­gen mögen, braucht es wenig Fan­tasie um sich vorzustellen, dass sie ein reales Prob­lem illus­tri­eren. Hat man durch­schnit­tlich 2014 in Großpös­na noch 5,05 €/m² bezahlt, waren es 2024 10,73 €/m² – also mehr als das Dop­pelte! In Naun­hof stieg der Quadrat­meter­preis in diesen 10 Jahren von durch­schnit­tlich 5,41 € auf 8,71 €.

Als Linke wollen wir dem ein Ende set­zen und kämpfen für eine warme und aus­re­ichend große Woh­nung als Grun­drecht für alle! Lan­gristig wollen wir hier­für das Wohnen dem freien Markt entziehen, kom­mu­nale Woh­nungs­bauge­sellschaften stärken und eine Lan­deswoh­nungs­bauge­sellschaft schaf­fen. Wir wollen eine wirk­same Miet­preis­bremse sowie ein strik­tes Zweck­ent­frem­dungsver­bot (etwa für Ferien­woh­nun­gen oder Leer­stand zu Speku­la­tion­szweck­en) ein­führen und die Förderbe­din­gun­gen für den sozialen Woh­nungs­bau anpassen. Zwangsräu­mungen in die Woh­nungslosigkeit gehören ver­boten!

Dass ich 2013/2014 meinen Führerschein in Großpös­na gemacht habe ist ein wahrer Fakt, und eben­so, dass ich damals um die 1500 Euro bezahlt habe wenn ich mich richtig erin­nere.. und das, obwohl ich mich hier­bei wirk­lich nicht son­der­lich geschickt angestellt habe. Heutzu­tage sind auch Preise von 3500 Euro und mehr keine Sel­tenheit mehr, was den Führerschein zum „Luxu­sgut“ wer­den lässt. Das ist fatal, denn ins­beson­dere im ländlichen Raum und beim derzeit­i­gen Aus­bau­s­tand des ÖPNV ist, auch wenn wir uns das anders wün­schen, ein Führerschein in vie­len Fällen Voraus­set­zung für gesellschaftliche Teil­habe und auch Voraus­set­zung bei vie­len Jobs. Die unge­brem­ste Infla­tion in diesem Bere­ich trifft ein­mal mehr ins­beson­dere junge Men­schen und noch mehr jene, deren Fam­i­lien sich das nicht ohne Weit­eres leis­ten kön­nen. Da in Sach­sen jedes fün­fte Kind von Armut bedro­ht ist, ver­schärft dies die sowieso vorhan­de­nen Start­nachteile dieser Bevölkerungs­gruppe weit­er­hin.

Zum Schluss: Den Bad Lau­sick­er Bahn­hof und das gut sicht­bare Graf­fi­to „Alle Kraft dem Fünf-Jahr-Plan“ habe ich schon in jun­gen Jahren immer inter­es­sant gefun­den, da er mir stets unver­mit­telt einen kleinen Ein­blick in die gesellschaftliche Nor­mal­ität vor mein­er Zeit gegeben hat. Obwohl ich die derzeit­ige soge­nan­nte soziale Mark­twirtschaft als gesellschafts- und wirtschaft­spoli­tis­ches Leit­bild ablehne, heißt das nicht, dass ich zurück zur Zen­tralver­wal­tungswirtschaft nach DDR-Prä­gung möchte – und das muss ich auch nicht. Die inter­na­tion­al seit vie­len Jahren laufende „social­ist plan­ning debate“ ist mit­tler­weile sehr viel weit­er und entwick­elt eine Vielzahl span­nen­der Mod­elle wie man etwa unter Ein­fluss von Big Data und Bot­tom-Up-Mod­ellen eine Volk­swirtschaft nach den Bedürfnis­sen ihrer Bewohner*innen anstatt nach dem Prof­it­streben sein­er Konz­erne aus­richt­en kann. (Für Einsteiger*innen empfehle ich den Sam­mel­band „Die unsicht­bare Hand des Plans“, her­aus­gegeben von Sabine Nuss sowie „The People’s Repub­lic of Wal­mart: How the World’s Biggest Cor­po­ra­tions are Lay­ing the Foun­da­tion for Social­ism“ von Leigh Phillips und Michal Roz­worsk, die argu­men­tieren, dass große multi­na­tionale Unternehmen wie Wal­mart, die teil­weise Jahre­sum­sätze größer als BIP divers­er Staat­en haben, keine Aus­drucks­for­men des Kap­i­tal­is­mus der freien Mark­twirtschaft sind, son­dern Beispiele für zen­trale Pla­nung im großen Maßstab. Sie argu­men­tieren auch, dass die Frage nicht lautet, ob groß angelegte Pla­nung funk­tion­ieren kann, son­dern ob sie demokratisch gestal­tet wer­den kann, um den Bedürfnis­sen aller zu dienen.)

Die Treu­hand und all die Vorgänge der Ver­schacherung des DDR-Ver­mö­gens in den frühen Neun­zigern sind mein Roman Empire. Ich habe das Gefühl, dass viele Men­schen mein­er Gen­er­a­tion erst in den let­zten Jahren wahrnehmen, was da eigentlich los war (in der Schule haben wir es jeden­falls nicht behan­delt) und dem The­ma erst jet­zt eine größere medi­ale Aufmerk­samkeit zukommt (Dirk Oschmann, die Net­flix-Rohwed­der-Doku, die Ini­tia­tive Auf­bruch Ost etc.). Lange wur­den jene, die auf Fehler und Ungerechtigkeit­en im Prozess der deutschen Vere­ini­gung hin­wiesen, als Ewiggestrige verunglimpft, die die DDR wieder­haben woll­ten. Von den Ost­deutschen wurde ver­langt, sie müssten sich schnell­st­möglich in jed­er Hin­sicht den West­deutschen anpassen und ihre eigene Geschichte und Iden­tität vergessen. Selb­st­be­wusste Ost­deutsche ver­schaf­fen nun ihrer Per­spek­tive in der öffentlichen Debat­te Gehör. Sie fra­gen, warum die Chance nicht genutzt wurde, die bei­den deutschen Staat­en auf gle­ich­berechtigte Weise mit ein­er gemein­samen, neuen Ver­fas­sung zu vere­ini­gen. Sie ver­weisen auf den von der Treu­hand organ­isierten Ausverkauf des Volksver­mö­gens, die ver­heerende Dein­dus­tri­al­isierung Ost­deutsch­lands und die fol­gende Masse­nar­beit­slosigkeit, die das Leben von Mil­lio­nen Men­schen zer­stört und Wun­den geschla­gen hat, die bei vie­len bis heute schmerzen. Sie kri­tisieren zurecht, dass der soge­nan­nte „Eliten­wech­sel“ nach 1990 nicht sel­ten jene West­deutsche in Ämter hievte, die es in ihrer Heimat nicht dazu gebracht hät­ten, während die Kar­ri­eren von Ost­deutschen zer­stört und ihre Lebensleis­tun­gen entwertet wur­den. Wir ste­hen an der Seite dieser selb­st­be­wussten Ost­deutschen. Das ein­stige Volk­seigen­tum ist zu 85 Prozent an West­deutsche, zu 10 Prozent an inter­na­tionale Inve­storen und nur zu knapp 5 Prozent an Ost­deutsche über­tra­gen wor­den. Eine Umverteilung, wie man sie noch kaum jemals in der Welt­geschichte gese­hen hat. Wir fordern, dass das Treu­hand-Unrecht endlich durch eine staatliche Kom­mis­sion kri­tisch aufgear­beit­et wird.